Dorfgespräch – Prozess und Methodik
Das Konzept der Dorfgespräche wurde in den Jahren 2017 bis 2019 im Rahmen eines Modellprojekts der Bundeszentrale für politische Bildung im ländlichen Raum in Oberbayern entwickelt und in sieben unterschiedlichen Kommunen mit verschiedenen Varianten didaktisch erprobt und wissenschaftlich evaluiert. Ab 2020 wurde es mit einem Fokus auf Streitkultur durch verschiedene Kooperationspartner in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt weiter implementiert. Mittlerweile haben Dorfgespräch-Prozesse und Varianten zu Kommunalwahlen, Bürgerversammlungen und digitaler Umsetzung in mehr als 50 ländlichen Kommunen in Deutschland statt gefunden. Es eignet sich auch – bedingt (siehe Stolpersteine!) – für Stadtteile und im Quartier.
Fokus eines Dorfgesprächs-Prozesses sind offene wertegebundene und beziehungsorientierte Dialoge mit persönlicher und emotionaler Begegnung. Vor Themenbearbeitungen oder Ergebnisorientierung stehen unmittelbare Erfahrungen der gelebten Vielfalt ganz unterschiedlicher Menschen im Dorf, die ihre Belange eigenverantwortlich in die Hand nehmen. Damit ist der Ansatz ein Beitrag zur Demokratie als Lebensform, die unser Miteinander gestaltet.
Um dies zu erreichen, ist ein persönlicher Einbindungsprozess formeller und vor allem auch informeller Schlüsselpersonen im Dorf durch „eins-zu-eins-Gespräche“ (Saul Alinsky) notwendig, um jenseits von externer Expertise einen Kreislauf von Wertschätzung, Teilhabe und Identifikation in Gang zu setzen.
Mit Hilfe der Dorfgespräche werden neue Orte und Wege der Kommunikation eröffnet, die einen intensiven Austausch aller Beteiligten ermöglichen: zwischen alteingesessenen Bürgerinnen und Bürgern und Neuzugezogenen, zwischen Vereinsverantwortlichen, nachbarschaftlichen Helfer:innenkreisen und Geflüchteten, zwischen engagierten Einzelbürger:innen, Senior:innen, Kindern und Familien sowie allen weiteren ortsansässigen interessierten Personen.
Der Kern ist letztlich eine ‚Dorferneuerung in den Köpfen‘: Fokussiert wird auf Einbindung, Begegnung, Auseinandersetzung mit Unterschieden und Konflikten sowie die Aktivierung individueller und kollektiver Ressourcen für intrinsisch motiviertes Handeln. In drei Dialogabenden wird der Dreischritt persönliche Begegnung, produktive Auseinandersetzungen und gemeinsames Handeln durchgeführt. Damit werden bestehende Strukturen nicht verneint – es werden jedoch neue und unerwartete moderierte Begegnungen ermöglicht, die jenseits eingefahrener Institutionen und Vorgehensweisen andere Ideen und Kreativität ermöglichen können.
Das Besondere des Ansatzes lässt sich in folgenden fünf Punkten kristallisieren:
- Wertedialoge und Konflikte im Fokus
- Produktive Irritation bestehender (Macht)Strukturen
- Gestaltung eines neuen „Wir“
- Stärkung politischen Bewusstseins und Handelns vor Ort
- Einbindung Aller durch ein niedrigschwelliges Format
Das Projekt ist theoretisch fundiert mit Bezügen zu Community Organizing (Saul Alinsky), dem Umgang mit Macht und Handeln (Hannah Arendt) sowie Demokratie-Lernen (John Dewey). Damit werden bestehende Strukturen nicht verneint – es werden jedoch neue und unerwartete moderierte Begegnungen ermöglicht, die jenseits eingefahrener Institutionen und Vorgehensweisen andere Ideen und Kreativität ermöglichen können.
Gerade die aktuellen gesellschaftliche Krisensituation, die Zuspitzung der unterschiedlichen Positionierungen inmitten von Nachbarschaften und Familien lenken den Blick auf ganz grundsätzliche Fragen:
- Wie gehen wir als Gesellschaft, als dörfliche Gemeinschaft und als Individuen mit denjenigen um, die sich nicht in eigene Denk- und Handlungsschemata einordnen lassen?
- Welche Wertvorstellungen und sinngebenden Haltungen liegen dem zugrunde, was wir befürworten oder ablehnen?
- Wer sind »Wir« überhaupt? Definieren wir uns in der Abgrenzung zu anderen oder ist »Wir« ein integrativer Begriff, der auch Vielfalt und Spannungen einschließt?
Mit diesen Fragestellungen verorten sich die Dorfgespräche nicht nur als Beteiligungsformat, sondern verfolgen vor allem einen politischen und demokratierelevanten Anspruch: den Erhalt einer offenen Gesellschaft, die aktiv und produktiv mit Vielfalt umzugehen weiß.
Jenseits theoretischer, konzeptueller und methodischer Überlegungen ist es grundsätzlich die Haltung einer offenen Neugier auf Menschen im ländlichen Raum, die motiviert und beflügelt, immer wieder erstaunt zu sehen, welche Ressourcen vorhanden sind und welch eigene stillschweigende Annahmen manches Mal einen bescheidener zurück lassen angesichts der Größe des unmittelbaren Handelns auf dem Dorf.
Exemplarische Methoden des Ansatzes finden Sie in dieser Methodensammlung unter